Mal bei den Nachbarn vorbeigeschaut

Ein Besuch im belgischen Gent zeigt, wie die verkehrsberuhigte Stadt aussehen kann

16.Oktober 2019

Mittwoch Mittag, kurz nach Zwölf. Wir schlendern durch die Innerstadt der ostflämischen Metropole Gent. Vorbei an der St.-Bavo-Kathedrale in deren Inneren der prächtige Genter Altar steht, dem herrlichen Belfried, bestaunen die ungewöhnliche Architektur der Stadthalle. Die Route führt an einer breiten Straße entlang, wir folgen der Asphaltspur, bleiben immer wieder mal stehen, lauschen, nee, immer noch nichts. Was uns irritiert lauschen lässt, ist die Ruhe in einer quirligen, belebten Innenstadt. Dann endlich, ein vernehmliches Quietschen kündigt eine sich nähernde Straßenbahn an. Die Tram der Linie 4 fährt vorbei und hinter ihr bleibt die Straße so ruhig liegen wie zuvor. Radfahrer, Fußgänger aber weit und breit kein Auto.

So sehen Hauptstraßen in der Genter Innenstadt aus
Foto: Silvia Passow

Gents Innenstadt ist seit mehr als zwei Jahren verkehrsberuhigte Zone. Nur sehr wenige Autos dürfen in die Innenstadt fahren, es gibt Sonderregelungen für Anwohner, Lieferverkehr und für Menschen mit Geheinschränkung und klar, die Rettungsdienste haben freie Fahrt. Parkmöglichkeiten gibt es so gut wie keine, wenn überhaupt kann das Auto unterirdisch abgestellt werden. Wer mit dem Auto durch die Innenstadt fährt muss wissen, er oder sie steht hier am Ende der Nahrungskette steht, soll heißen, Fußgänger und Radfahrer haben Vorrang. Und Radfahrer gibt es reichlich in Gent. Hier ist die Aufmerksamkeit des Fußgängers durchaus gefragt, denn sie kommen tatsächlich aus allen Richtungen. Was allerdings auch gesagt sein muss. Ausnahmslos hielten die Radfahrer an Zebrastreifen an und ließen Fußgänger passieren. Fietsen, also Radfahren, erfreut sich in Belgien ohnehin großer Beliebtheit. Entsprechend groß ist das Angebot für Radfahrer.

Voran kommt man zu Fuß oder mit dem Rad, Hauptsache mit Muskelkraft
Foto: Silvia Passow

Deutsche Innenstädte hinken, wenn es um die Autofreiheit geht, mehrheitlich hinterher. Es geht noch immer um die Freiheit der Autos, bzw. deren Insassen. Ich lebe in einer Kleinstadt und sehr gern würden hier einige, überwiegend junge Leute, die Innenstadt von Autoabgasen und Lärm befreien. Ihnen schallt regelmäßig nein, geht nicht, entgegen. Da mag man nicht einmal probieren, was tatsächlich gehen würde. Die Mehrheit der Deutschen, so scheint ist, zeigt sich hier weder Experimentierbereit, noch darf der Gedanke, weniger Auto, allzu laut gedacht sein. Regt man autofreie Räume für Berlin an, regt sich sofort laufstark die deutsche Autofahrerseele. Ich gestehe, ich fahre auch gern Auto. Wohlgemerkt fahren. Im Stau stehen, ist eben stehen und nicht fahren. Wo es dicht wird, weiche ich gern auf andere Verkehrsmittel aus.

Okay, ab und an kommt schon mal ein Auto, aber nur ab und an
Foto: Silvia Passow

Prima, andere machen es halt vor und versuchen es. Nun kann sich nicht jede Stadt mit Gent vergleichen, schon klar. Wenn dann aber einer mutig voranschreitet, lohnt es sich doch mal zu schauen, wie machen die das? Welche Herausforderungen haben die meistern müssen? Welche Widerstände gab es? Wie konnte man auch mit sehr viel weniger Autos, die Leute mobil unterwegs sein lassen?

Auf Tuchfühlung mit der Tram
Foto: Silvia Passow

Gent hat 250 000 Einwohner, davon sind rund 65 000 Studenten. Also eine vergleichsweise junge Stadt. Gent, das auch als das Venedig Belgiens gilt, lockt jährlich viele Besucher. Kaum anzunehmen, dass die Touristen alle mit dem Tretroller anreisen. Taten wir auch nicht. Das Auto wurde in einer Tiefgarage abgestellt und erblickte erst wieder bei der Abreise Tageslicht. Eines darf man mal annehmen. Die Bewohner der alten Handelsstadt wollten ganz sicher keine geschäftlichen Einbußen hinnehmen. Dennoch, man hat es versucht. Auch in Gent passierte die autofreie Innenstadt nicht einfach. Jahrelange Planung war nötig, der grüne Stadtrat für Mobilität, Filip Watteeuw, hatte federführend für die verkehrsberuhigte Innenstadt gesorgt. Laut einem NWS-Bericht, einem Nachrichtenportal aus Flandern, blieb bei der Eröffnung der verkehrsberuhigten Innenstadt ein Verkehrschaos aus. Ab 2020 werden die Regeln für den Autoverkehr in Gent noch einmal verschärft und die Innenstadt zur Umweltzone erklärt.

Unterwegs mit dem Kahn lässt sich die Schönheit der Stadt genießen
Foto: Silvia Passow

Neben drei Tram-Linien fährt ein kleiner blauer Elektro-Bus durch die Innenstadt und bringt Fahrgäste von A nach B. An den Wochenenden ergänzt die Hop-on-Hop off-Wasserstraßenbahn das Angebot im öffentlichen Nahverkehr. Und Fahrräder. Es gibt verschiedene Stationen zum Ausleihen eines Rades. An jeder Ecke Fahrradständer, die oft chronisch überfüllt sind. Wer Abends am Kino vorbeilaufen möchte, muss sich durch allerhand Lenker und Pedale arbeiten. Kostenlose Fahrradparkhäuser gehören ebenso zum Programm. Radfahren ist hier die normale Art der Fortbewegung geworden. Und möglicherweise mag es nur der Ausschnitt sein, in dem sich der Beobachter bewegt, doch irgendwie wirken jene, die da in Gent, in die Pedalen treten, im Durchschnitt deutlich schlanker, als die Besucher und Touristen der Stadt. Ob Verkehrsberuhigung Auswirkung auf die Gesundheit der Bevölkerung, nicht nur in Sachen reine Luft hat, wäre einer weiteren Betrachtung wert.

Gent lässt sich auch wunderbar vom Wasser aus erkunden
Foto: Silvia Passow

Ja, es lohnt sich mal vorbei zu schauen, Gent hat einiges zu bieten. Viel Geschichte, Kunst, Kultur, leckeres Bier und gutes Essen. Apropos Essen. Gent rief als erste Stadt Europas, vor zehn Jahren, einen Veggie-Day, flämisch Veggiedag, aus. Donnerstags kommt in Kantinen und Kita kein Fleisch oder Fisch auf die Teller. Auch Restaurants beteiligen sich am fleischfreien Donnerstag. Das aber nur so ganz nebenbei. Eins nach dem anderen.

Hinter der Mauer aus Beton findet sich der herrliche Strand
Foto: Silvia Passow

Sicher, der Belgier ist nicht per se als Umweltschützer auf die Welt gekommen. Wer diesen Einspruch einlegen will, hat Recht. Es heißt, der durchschnittliche Belgier macht sich keine schlaflosen Nächte, wenn hier oder dort ein Baum gefällt wird. Und eine Ansammlung von drei Bäumen nennt der Belgier bereits Wald, habe ich bei meinem Aufenthalt gelernt. Wer sich mal an die Belgische Küste verirrt hat und kein Meer sieht, dem sei gesagt, die Nordsee findet sich hinter der Hochhausansiedlung! Die Belgier haben ihre Küste derart zugepflastert, dass man meinen könnte, sie haben hier einen zweiten Atlantikwall aufgebaut. Nur diesmal eben selbst und freiwillig, mit Balkonen und zu friedlichen Zwecken. Ich weise auf diese Bausünden hin, weil genau so etwas folgt, wenn man lobend über den Tellerrand schaut. Die sind auch nicht so toll, schau mal was die sich da geleistet haben. Undsoweiterundsofort. Klar können die Belgier gern das Baum umarmen von uns lernen. Wenn sie dann mögen. Wir könnten im Gegenzug die Freude am fietzen übernehmen. Weil das Wort „fietzen“ so schön ist und weil es einfach Spaß macht.

Das schönste Fahrradparkhaus fanden wir allerdings in Brügge.
Foto: Silvia Passow

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