Im Nationalpark Unteres Oderodertal gibt es Streicheleinheiten für die Seele
Text & Fotos von Silvia Passow
Criewen. Stille, die tatsächliche Abwesenheit von Geräuschen, wird erst dann wirklich bewusst, wenn sie unterbrochen wird. Das sich nähernde Geräusch klingt vertraut und doch fremd, der Blick sucht, hebt sich, zwei Enten fliegen über die eingefrorene Landschaft. Das auf und ab ihrer Flügel ist deutlich hörbar, fast glaubt man, den Luftzug zu spüren, die Bewegung jeder Feder, jeden Muskels. Kraftvoll und doch leicht fliegen sie ihrem Schlafplatz entgegen, weit draußen auf den teils zugefrorenen Polderflächen.
Rund 145 Vogelarten brüten im einzigen Auen-Nationalpark Deutschlands. Der Nationalpark Unteres Odertal gehört zu den Artenreichsten Lebensräumen in Deutschland. Genau genommen ist der 1995 gegründete Park sogar ein Internationalpark, denn er bildet mit dem Park Krajobrazowy Dolina Dolnej Odry und dem Cedynski Park Krajobrazowy auf der polnischen Seite der Oder, eine räumliche Einheit. Die grenzüberschreitende Schutzzone erstreckt sich über 1172 Quadratkilometern. Sowohl auf deutscher wie auch auf polnischer Seite, verläuft der Park auf über 60 Kilometer Länge am Ufer der Oder entlang.
Die Nationalparkverwaltung befindet sich in Criewen (Uckermark), einem Ortsteil von Schwedt/Oder. Hier kann auch eine hübsch hergerichtete Herrenhaus-Anlage nebst idyllischen Teichen und Kirche besichtigt werden. Vom Sitz der Parkverwaltung ist es nicht weit bis zum Deich, hinter dem die Polder, die Überflutungsflächen, der Oder liegen. Am Deich angekommen heißt es nur noch die Wahl treffen, rechts oder links lang. Das Abenteuer Natur ruft auf beiden Seiten, so viel sei verraten. Was die Deichwanderung besonders attraktiv macht, sie ist ein Vergnügen für die ganze Familie, denn auf dem asphaltierten Weg kommen Kinderwagen wie Rollstuhl gut voran. Nun heißt es nur noch der Nase nach, Augen und Ohren offenhalten und genießen. Kamera und Fernglas sollten unbedingte Begleiter sein.
Im Winter sind die Polderflächen überflutet und wenn es, so wie jetzt, ordentlich kalt war, zum Teil zugefroren. Wiesen, Sträucher, Bäume, die Landschaft ist eingefroren, mystische Stille liegt über dem Eis, als wäre die Zeit gleich mit eingefroren. Es herrscht reger Flugbetrieb, über derart viele Starts und Landungen würde man sich, an anderer Stelle in Brandenburg, sicher die Hände reiben. Hier allerdings sind es Enten und Möwen, Seeadler und Schwäne, im Winter die Singschwäne, deren Starts und Landungen, beobachtet werden können.
Etwa 300 Singschwäne hielten sich Ende Februar laut Parkverwaltung im Nationalpark auf. Es gibt viele gute Möglichkeiten, die weißen Riesen, mit dem sehr geraden, langen Hals und dem gelb-schwarzen Schnabel zu beobachten. Die ebenfalls im Park lebenden Höckerschwäne haben einen orangen Schnabel und ganz wichtig, sie können nicht singen. Die musischen Einlagen der Singschwäne werden im Park für gewöhnlich mit den Singschwan-Tagen begangen. Dann gibt es Naturführungen und man erfährt allerhand wissenswertes um die Sänger in Weiß.
In diesem Jahr fallen sie, Corona bedingt, aus. Wer sich selbst auf die Suche begeben will, hat im Nationalpark gute Bedingungen, die seltenen Tiere beobachten zu können. Ein besonders schöner Platz ist der Beobachtungsturm in Mescherin, dessen Bauweise auch ganz ohne Singschwan was hermacht. Aber Achtung, für die Singschwäne kann zu viel menschliche Aufmerksamkeit auch lästig werden. Sie fliegen dann auf und suchen das Weite. Für den Beobachter schade, für die Tiere ein Kraftakt. Fliegen verbraucht Energie und die muss wieder angefressen werden. Und Futter muss erst einmal gefunden sein.
Auch die Seeadler sind gerade mit der Balz beschäftigt und es können gerade sehr viele Gänsesäger beim Fischfangen beobachtet werden. Entenvögel sind in großer Zahl und Artenvielfalt im Park anzutreffen. Das weiß auch Gevatter Fuchs, der sich in der Abenddämmerung hinaus aufs Eis wagt, einen Weg sucht, irgendwie muss man doch an die Leckerbissen kommen, die sich auf den Eisschollen in Sicherheit wähnen. Er versucht es eine ganze Weile, läuft vor, zurück und bricht das Unterfangen irgendwann ab. Und die Enten und Blässhühner, die seinen Appetit geweckt haben? Die zeigen kaum eine Regung, wussten wohl, dass der rotbraune Jäger keine Chance hatte, sie zu erreichen.
Das Blässhuhn gehört zur Ordnung der Kranichvögel und zwei der großen Zugvögel stehen nur einige hundert Meter weiter ebenfalls auf dem Eis. Ihre Trompetenrufe schallen über die im Eis gefangene Landschaft, dann und wann fliegen Artgenossen über sie hinüber und antworten. Bald werden sie weiterziehen und die freiwerdende Lücke wird gefüllt, Weißstörche und die sehr seltenen Schwarzstörche werden Einzug halten. Dann werden die bunten Blüten zahlreicher Wildblumen auf dem Trockenrasen Anziehungspunkt für vielerlei Insekten sein, seltene Wiesenbrüter wie Wachtelkönig und Uferschnepfe werden ihre Nester bauen, in den alten Laubwäldern wird der Pirol seine Brut pflegen.
Doch nicht alles, was im Park lebt oder ihn durchstreift hat Flügel. Auch Fischotter und Biber sind hier heimisch und wer ganz, ganz großes Glück hat, dem begegnet vielleicht sogar ein Elch, der bei seinen Wanderungen auch das Wasser nicht scheute, von Polen kommend, die Oder durchschwamm.
Der Nationalpark Unteres Odertal hält viel Seelenbalsam bereit, ein Juwel für Ruhesuchende und Abendteurer, für Naturverliebte und Träumer zu allen Jahreszeiten, bei fast jedem Wetter. Auch und gerade im Winter. Eine Thermoskanne mit heißen Früchtetee macht das Winterglück perfekt.